Die Flying Fox war 10 Meter hoch und führte sicher 100 Meter die Main Road hinunter. Inmitten der beschaulichen Hauptstraße von Swinton-on-Sea wirkte sie so futuristisch wie eine Raumstation der NASA. Dad hatte es also tatsächlich getan! Eliyah konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Was zum Teufel hat sich dein Vater nur dabei gedacht?“ Rosie, seine Mutter, presste ihre Handtasche so fest vor ihre Brust, als wolle sie sie zerquetschen.
„Am besten fragst du ihn das selbst. Da kommt er.“ Eliyah nickte zu Joes Fischbude hinüber. Dad trat gerade heraus. Es war ungewohnt, ihn einmal nicht im Blaumann zu sehen, sondern in einem Anzug. Obwohl auch der blau war. Kobaltblau. Die Farbe blendete geradezu.
Eliyah schielte zu seiner Mum hinüber. Deren eh schon immer recht rosiger Teint hatte eine geradezu besorgniserregende warnsignalrote Farbe angenommen.
„Reginald McDonalds, komm sofort her!“, brüllte sie, und Dad zuckte zusammen.
Wie ein Kind, das beim Griff in die Süßigkeitenkiste ertappt worden war, schlich er zu ihnen. Doch noch schien er die Hoffnung zu haben, das Donnerwetter abwenden zu können, denn er rang sich ein breites Lächeln ab.
„Zauberhaft siehst du aus, meine Blume! Es war gut, dass du dir einmal einen Vormittag eine Auszeit genommen hast und zum Friseur gegangen bist.“
Im ersten Moment ging sein Plan auf, denn Mums rundliche Hand ging zu ihrer frischen Dauerwelle. Doch dann zog sie sie wieder zurück und kniff die Augen zusammen. „Jetzt weiß ich, was du dir dabei gedacht hast. Du wolltest mich aus dem Verkehr ziehen, um dieses Monstrum aufbauen zu lassen.“ Ihr Finger zeigte anklagend auf die massive Stahlkonstruktion.
Dad zog den Kopf ein. „Wir hatten doch darüber gesprochen, dass ich Mutter zu ihrem 80. damit überraschen will?“
„Aber du hast es danach nie wieder erwähnt. Ich dachte nicht, dass du diesen Schwachsinn wirklich ernst meinst. Und schon gar nicht, dass du dieses Ding mitten auf der Main Road aufstellen lässt.“ Mums Brust bewegte sich heftig auf und ab. „Es können ja gar keine Autos mehr fahren. Das hättest du dir genehmigen lassen müssen.“
„Aber du bist doch die Bürgermeisterin, Blümchen, und mit dir habe ich darüber gesprochen.“
„Nenn mich nicht Blümchen!“ Sie stemmte die Arme in die Seiten. „Außerdem weißt du ganz genau, was ich meine: Du hättest beim Gemeinderat einen Antrag einreichen müssen. Und was ist das überhaupt für ein furchtbarer Anzug, den du trägst?“
„Du hast doch gesagt, dass ich mir einen neuen kaufen soll, weil der alte mir etwas zu eng um die Hüften geworden ist.“
„Ja, aber doch nicht in dieser Farbe. Du siehst aus wie … wie …“, sie rang sichtlich nach Worten, „wie ein Tintenfass.“
Das war der Moment, als Eliyah sich zurückzog und seine Eltern mit ihrer Diskussion allein ließ. Das würde ihm gerade noch fehlen, dass er zwischen ihre Fronten geriet.
Sehnsüchtig schaute er zum Reading Fox hinüber, dem Antiquariat, in dem er seit ein paar Wochen als Buchhändler arbeitete. Bis vor einer Viertelstunde hatte er dort noch friedlich im Keller gesessen und die neue Bücherladung katalogisiert, die Patricia vor ein paar Tagen erhalten hatte. Eliyah liebte Bücher. Vor allem Tagebücher. Durch sie lebte er fremde Leben, reiste in ferne Länder und, ja, erlebte auch die eine oder andere geheime Leidenschaft. Gerade heute Morgen hatte er eins in einer der Kisten entdeckt: Es stammte von einem Botaniker, der Anfang des 19. Jahrhunderts auf die Kanarischen Inseln gereist war, um nach einer seltenen Pflanze zu suchen. Eliyah hatte es eigentlich mit nach Hause nehmen wollen, um darin zu lesen, aber er hatte es vergessen. Nun war er durch eine Glastür davon getrennt, an der ein Schild mit der Aufschrift „Geschlossen“ hing. Dabei war es erst halb drei.
Doch heute, am 80. Geburtstag von Swintons schillerndster Einwohnerin, seiner Großmutter, würde sowieso niemand kommen. Schließlich hatte Nanette das halbe Dorf zu ihrem großen Tag eingeladen, und die meisten Geburtstagsgäste hatten sich bereits auf dem Marktplatz versammelt. Granny hatte dort extra ein Zelt aufstellen lassen, mit langen Bänken und Tischen darin und davor. Drumherum gruppierten sich Buden, an denen man sich etwas zu essen und zu trinken kaufen konnte. Und mittendrin befand sich der Aufstieg zur Flying Fox. Sie erregte ein ziemliches Aufsehen. Immer wieder sah er, wie einer seiner Swintoner Mitbürger mit dem Finger darauf zeigte. Paul, Patricias Schwiegervater und selbsternannter Hilfssheriff von Swinton, rüttelte sogar an dem Gerüst, um zu überprüfen, ob sie denn wirklich stabil war.
„Man könnte meinen, es wäre schon September?“, sagte Pat, die neben ihm getreten war.
Eliyah nickte. Viel mehr los auf den Straßen und auf dem Marktplatz war auch beim Book Festival nicht. „Du kennst doch Granny. Die Großen schaffen das Große.“
Pat zog die Augenbrauen zusammen. Er vergaß immer wieder, dass seine Vorliebe für Spruchweisheiten und Zitate berühmter Persönlichkeiten bei seinen Mitmenschen für Irritation sorgen konnte. Doch da lächelte sie schon wieder. „Genau. Ein großes Schiff braucht großes Fahrwasser.“ Sie zwinkerte ihm zu. Im nächsten Moment zuckte sie zusammen, und ihre Hand ging zu ihrem Bauch. Wahrscheinlich hatte das Baby sie getreten.
Einen Moment lang ließ Eliyah seinen Blick auf der Ausbeulung ihrer Strickjacke ruhen. Pat behauptete zwar, dass sie nur ein Kind bekommen würde, einen Sohn, aber Eliyah würde es nicht überraschen, wenn bei der Geburt zwei Babys herauspurzeln würden. Pats Bauch stand inzwischen so weit vor, dass sie ein Glas Tee darauf balancieren konnte – Eliyah hatte sie sogar schon dabei beobachtet, wie sie es getan hatte – und er erinnerte ihn tagtäglich daran, dass er schon bald aus den Tiefen des Kellers herauskommen und an die Oberfläche treten musste, um Kunden zu beraten und abzukassieren… Nach der Geburt wollte Pat nämlich erst einmal ein paar Monate zu Hause bleiben, um sich ganz dem neuen Menschenkind zu widmen. Eliyah graute davor, denn so sehr er die Arbeit mit Büchern liebte, der Umgang mit anderen Menschen gehörte wahrlich nicht zu seinen Stärken.
„Kinder, schnell, stellt euch auf!“ Nancy Butcher, die Besitzerin der Postfiliale und größte Klatschtante von Swinton, klatschte in die Hände. „Sie kommt.“
Ein Wagen fuhr vor: Ein Oldtimer-Cabrio. Es wurde von Hugh gefahren. Ihm gehörte die Tankstelle, und er war der Schwiegersohn von Grannys guter Freundin Dorothy. Die saß quietschvergnügt mit ihr auf der Rückbank und winkte alle Anwesenden so huldvoll zu, dass es Queen Elisabeth nicht besser könnte. Granny dagegen hatte die Hände vor den Mund geschlagen und starrte auf die Seilrutsche. Damit, dass Dad ihr diesen Wunsch erfüllte, hatte sie ganz offensichtlich genauso wenig gerechnet wie Mum. Vielleicht hatte sie ihn auch nur so dahin gesagt, aber die offensichtliche Begeisterung auf ihrem Gesicht zeigte Eliyah: Die Schimpftirade, die gerade auf Dad eingeprasselt war, hatte sich gelohnt!
Hugh machte die Tür auf und half Granny aus dem Cabrio, und sofort wurde sie von Gratulanten umringt.
Voller Zuneigung betrachtete Eliyah seine Großmutter. Niemand, der diese vor Lebenslust und Energie nur so strotzende Frau sah, würde denken, was für schwere Schicksalsschläge sie in ihrem Leben schon hatte erleiden müssen. Nicht nur, dass ihre kleine Tochter Elsie mit zwei Jahren bei einem tragischen Unfall gestorben war, dessen Ursache nie so ganz geklärt werden konnte, genau ein Jahr später hatte sich Grandpa Frank vor Kummer darüber das Leben genommen, und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hatte sie ohne ihn auch Swinton Manor nicht mehr halten können und mit Dad ins Dorf ziehen müssen. Ins Hillcrest House. Obwohl das große Haus aus Naturstein mit den vielen Türmchen und Erkern wirklich hübsch war, verspürte selbst Eliyah immer einen Hauch von Bedauern, wenn er den ehemaligen Stammsitz des Clans MacDonald hoch über dem Dorf auf einer Hügelkuppe thronen sah.
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„Was schaust du denn so düster, Herzchen?“ Eine schmale, kühle Hand legte sich auf seinen Unterarm. Eliyah war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass Granny zu ihm gekommen war.
„Diese tiefe Falte zwischen deinen Augenbrauen mag ich an meinem Geburtstag nicht sehen.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und strich sie ihm mit dem Zeigefinger glatt. Dabei nahm er das Parfüm seiner Großmutter wahr – Rose gemischt mit Jasmin, Veilchen und Flieder. Es hieß Balmain Vent Vert, und schon Katherine Hepburn, Marlene Dietrich und Brigitte Bardot hatten es getragen, wie Granny gerne betonte. Noch nie hatte er ein anderes an ihr gerochen.
Aus einem Impuls heraus schlang Eliyah seine Arme um die immer noch mädchenhaft schlanke Taille seiner Großmutter und drückte sie heftig an sich. „Alles Liebe zu deinem 80. Geburtstag, Granny!“ flüsterte er in ihre Schulterbeuge und sog tief ihren Duft ein. In der letzten Zeit beschlich ihn immer öfter die Angst, dass er ihn irgendwann zum letzten Mal riechen könnte.
Granny löste sich von ihm und gab ihm einen scherzhaften Klaps auf den Arm. „Zu meinem zwanzigsten 60., wolltest du wohl sagen, Eli. Und jetzt komm!“ Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn durch ihre Gästeschar. „Ich möchte meine Rutsche eröffnen! Ist das nicht süß von deinem Vater, dass er sie wirklich für mich gemietet hat?“ Sie kicherte. „Auch wenn ich befürchte, dass die Sache für ihn noch ein Nachspiel haben wird. Deine Mutter sieht nicht sonderlich begeistert aus.“
Das tat sie wahrlich nicht. Obwohl Mum versuchte, Haltung zu bewahren, wirkte ihr Gesichtsausdruck verkniffen, als sie mit einer großen Schere in der Hand neben Dad vor dem Aufstieg zur Seilrutsche stand. Noch wurde er von einem breiten lavendelfarbenen Band aus Taft verschlossen.
„Ooooooh, da kommt ja das Geburtstagskind!“ rief Mum mit aufgesetzter Heiterkeit. „Herzlichen Glückwunsch, meine Liebe!“ Auch sie zog ihre Schwiegermutter fest an sich und drückte sie, nicht ohne ihr jedoch für Eliyah gut hörbar ins Ohr zu flüstern: „Ich werde diese Rutsche auf gar keinen Fall hinunterrutschen, und auch wenn heute dein Geburtstag ist: Gnade dir Gott, wenn du mich dazu zwingst!“
Wie immer ließ sich Granny durch nichts aus der Fassung bringen. „Warten wir einmal ab, ob du nach ein paar Sherrys immer noch dieser Meinung bist!“ flüsterte sie augenzwinkernd zurück, bevor sie ihre Geburtstagsgäste begrüßte, sich bei seinen Eltern für ihr wundervolles Geschenk bedankte und dann unter tosendem Applaus das Taftband durchschnitt.
Eliyah begleitete Granny die Plattform hinauf.
„Die sollten Sie besser abnehmen, Mam“, sagte der bullige Mann, der ihr den Sicherheitsgurt hinhielt und zeigte auf ihre lange Perlenkette. „Und das Ding in Ihrer Hand muss auch unten bleiben.“
„Sie meinen meine Zigarettenspitze? – Schade!“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich wäre sehr Audrey Hepburn gewesen, wenn ich beides hätte behalten dürfen. – Frühstück bei Tiffany“, erklärte sie, als der Mann sie nur verwirrt ansah, doch auch jetzt klingelte nichts bei ihm. Er war wohl kein großer Cineast.
Granny schlüpfte aus ihrer Perlenkette und reichte sie Eliyah zusammen mit der Zigarettenspitze. „Aber meine Schuhe behalte ich an! In dieser Hinsicht lasse ich nicht mit mir reden!“, sagte sie zu dem Mann.
Der nickte schicksalsergeben, und dann betätigte er die Seilwinde.
„Drei, zwei, eins!“, erscholl es wie aus einer Kehle, als sie oben angekommen war, und schon sauste sie hinab. Juchzend, über das ganze Gesicht strahlend. Der Saum ihres langen schwarzen Abendkleides und die Pelzstola wehten hinter ihr her.
Als die Rutsche wieder zum Stillstand gekommen war und Grannys Füße wieder Bodenkontakt hatten, half ihr ein zweiter Mann aus dem Gurt heraus. Dabei kam sie auf ihren hohen Absätzen ins Straucheln und plumpste auf den Boden. Doch sofort stand Granny wieder auf – so wie sie es schon ihr ganzes Leben getan hatte – und richtete ihr Haar und das Kleid, nur um erneut den Weg nach oben anzutreten.
Eliyah hoffte, dass niemals etwas passierte, was sie dazu brachte, liegenzubleiben!
Ich mag diese Szene. Aber letztendlich erscheint mir ein anderer Einstieg passender. Was meinst du: Schade oder Ich-kann-es-verschmerzen?😀
Hallo Katharina,
sie ist wunderschön die Szene und es ist wirklich, wirklich schade, dass Sie keinen
Platz in Herbstleuchten findet. Da bleibt die Frage, was war wirklich besser
als das hier? 🙂
Ja, das finde ich auch. Aber der neue Prolog führt besser in die Handlung ein. Und der ist auch sehr schön 🙂
Ach, schade! Aber umso gespannter bin ich auf „Herbstleuchten“!
Das freut mich! 🙂
Die Szene ist sehr schön geworden. Passt die Szene ggf. woanders ins Buch hin?
Ich würde sie sehr gerne im Buch lesen. 🙂
Liebe Linnea, Passagen habe ich tatsächlich in die Geschichte eingewoben, aber die Seilrutsche und Nanettes Geburtstag werden nicht vorkommen. Es tut mir selbst ein bisschen leid!