Das Leben ist eine Reise.

Nimm nicht zu viel Gepäck mit.

(Billy Idol)

Prolog

Karoline

Valle Gran Rey, Mai 1985

Der Wind peitschte die schlammbraunen Wellen gegen die Kaimauer. Schon seit Tagen fegte ein Sturm über die Insel. Karoline schaute mit sorgenvoller Miene auf die Boote am Hafen. Das wild wogende Wasser schleuderte sie wie Walnussschalen herum.

„Heute legt hier nichts ab!“, hatte ein Hafenmitarbeiter zu Lucia und ihr gesagt. Aber Fernando hatte es versprochen.

Immer wieder sah Karoline sich um, ob ihnen jemand gefolgt war.

„Wo bleibt er denn nur?“, fragte sie die alte Frau unruhig.

„Er wird sich Mut antrinken.“ Lucia lachte heiser. Mit ihrem Kopftuch auf den grauen Haaren, dem flatternden Rock und dem dunklen Wolltuch über den Schultern sah sie wie eine vom Wind zerzauste Krähe aus.

„Hoffentlich wacht die Kleine nicht so bald auf!“ Karoline zog das Mulltuch auf ihrem Weidenkorb ein Stück beiseite und betrachtete das kleine Wesen, das darin weich gepolstert auf einem Kopfkissen lag. Maya hieß das Mädchen – wie die schönste der sieben Plejaden. So hatte Hannah sie genannt.

Lucia beugte sich über den Korb und strich mit ihren geschwollenen, von Gicht geplagten Fingern liebevoll über die Wange des Babys. „Ein bisschen wird sie noch schlafen. Ich habe ihr etwas Mohnsaft in die Milch gegeben“, erklärte sie ruhig.

Endlich! Eine Vespa brauste heran, und ein dunkelhaariger Mann mit dichtem Piratenbart stieg ab. Trotz des Regens trug er nur ein kurzärmeliges Hemd. Auf seinem beachtlichen Bizeps rangen eine barbusige Meerjungfrau und ein Seeungeheuer miteinander.

„Ist die Dame bereit?“ Ein goldener Eckzahn blitzte auf.

Normalerweise hätte Karoline um Männer wie ihn einen großen Bogen gemacht. Aber Fernando tat für Geld alles, hatte Lucia gesagt, und jetzt brauchte sie ihn. Sie drückte ihm verstohlen die verabredeten 30000 Peseten in die Hand – für die Überfahrt nach Teneriffa und die gefälschte Geburtsurkunde, die er ihr besorgt hatte.

Lucia schaute noch einmal zu dem Baby hinunter. „Nun müssen wir uns verabschieden, mi querida„, sagte sie. Ihre sonst so herrische Stimme war brüchig geworden. „Hab ein schönes Leben, kleine Kämpferin!“ Sie zog das Tuch über dem Korb zurecht. „Pass gut auf sie auf!“, sagte sie zu Karoline. In ihren Rosinenaugen schimmerten Tränen.

„Das werde ich.“ Der Korb in Karolines Hand fühlte sich an, als wäre er mit Zement gefüllt. Gleich musste sie sich von Lucia verabschieden. Gleich würde sie für das erst wenige Tage alte Menschlein allein verantwortlich sein. Dabei war sie noch nie für etwas allein verantwortlich gewesen. Noch nicht einmal für einen Fisch oder einen Kanarienvogel.

„Los!“, kommandierte Fernando grob. „Sonst verdoppelt sich mein Honorar.“

Karoline folgte ihm zu einem der größeren Fischerboote. Als er ihr hineinhalf, spürte sie seine groben Hände schmerzhaft an ihrem Arm.

Ihr Blick suchte noch einmal den von Lucia, wie um sich zu vergewissern, dass sie das Richtige tat. Die Hebamme nickte.

Karoline atmete tief durch und trat mit dem Korb unter dem Arm in die Kajüte. Sie musste sich mit der freien Hand festhalten, sonst wäre sie gestürzt. Der Sturm rüttelte heftig an dem Boot, ließ es auf den Wellen tanzen. Erleichtert setzte Karoline sich auf die grobe Holzbank. Lucia hatte ihr ihren Rosenkranz schenken wollen, aber sie hatte abgelehnt. Jetzt tastete sie unter dem Mulltuch nach dem runden Holzanhänger, und umfasste ihn fest. Hannah hatte ihn gedrechselt. Er fühlte sich glatt und warm an. Mit geschlossenen Augen saß Karoline da.

Plötzlich spürte sie eine Berührung an ihrer Hand. Das Baby hatte angefangen, mit seinen Ärmchen zu fuchteln. Dabei stieß es ein leises, klägliches Wimmern aus. Wie ein Kätzchen klang es. Bisher hatte Karoline es vermieden, das kleine Gesicht genauer anzuschauen, weil sie Angst hatte, ihn darin wiederzuerkennen. Aber jetzt konnte sie den Blick nicht abwenden. Es war ein ganz normales rundes, winziges Babygesicht, das zu ihr aufschaute. Karoline schluckte, als sie in die großen Augen des Kindes schaute, die so unschuldig und weise zugleich aussahen. Noch war ihm nie etwas Böses widerfahren, noch war es nie verletzt oder enttäuscht worden. Es war wie die leere erste Seite in einem noch ungeschriebenen Buch. Noch stand ihm alles offen.

Eine ganz besonders hohe Welle rollte auf das Boot zu.

„Festhalten!“, brüllte Fernando, der breitbeinig am Steuerrad stand.

Gerade noch rechtzeitig umklammerte Karoline mit der einen Hand den Henkel des Korbs, mit der anderen das raue, rissige Holz der Bank, als die Wellen mit voller Wucht auf das Boot trafen. Kurz geriet es in Schräglage. Meerwasser schoss in die Kajüte. Es brachte fischigen Salzgeruch mit und durchtränkte den Saum von Karolines Rock. Wieder wimmerte das Kleine, dieses Mal lauter.

„Schsch!“, machte Karoline und wiegte den Korb sanft hin und her, weil sie nicht wusste, wie sie das Baby sonst beruhigen sollte. „Schsch!“ Ihr Herz pochte. „Schsch!“, machte sie noch einmal.

Der Kopf des Kindes ruckte herum, als wollte es herausfinden, wo dieser Laut herkam. Sein Mund war leicht geöffnet, seine Fäustchen fuchtelten ziellos durch die Luft. Wie schön diese Miniaturhände aussahen, wie perfekt die winzigen Fingernägel geformt waren! Karoline stupste eines der Fäustchen an, und das Kind öffnete die Faust und umschloss mit seinen Fingern energisch ihren Zeigefinger. Dabei krähte es, und fast klang es wie ein Juchzen.

„Du hast bereits jetzt ganz schön viel Kraft, kleine Dame“, stellte Karoline fest, und seltsamerweise fühlte sich der Korb auf ihrem Schoß auf einmal viel leichter an als zuvor.

Sie wusste nicht, ob sie jemals wieder Boden unter den Füßen spüren würde, und auch nicht, ob Fernando das Boot nicht an Teneriffa vorbei nach Marokko steuern würde, um sie dort auf dem Sklavenmarkt zu verhökern – zugetraut hätte sie es ihm ohne weiteres. Schon gar nicht konnte sie vorhersehen, wie es in Deutschland weitergehen würde. Aber ganz hinten am Horizont hatte die Wolkendecke einen Riss, und Sonnenstrahlen fielen hindurch und ergossen sich auf das Meer. Das kleine Mädchen blickte vertrauensvoll zu ihr auf, und irgendetwas sagte Karoline, dass alles gut gehen würde.

Sie würde es schaffen. „Wir beide schaffen es“, sagte sie fest.

 

32 Jahre später

 

1. Kapitel

„Ich glaube, du hast einen Verehrer“, sagte Kathi. „Der gutaussehende Typ da drüben starrt schon die ganze Zeit zu dir rüber, als wärst du eine göttliche Erscheinung.“

„Echt?“ Maya drehte sich um. Der einzige Mann in ihrem näheren Umkreis, auf den das Prädikat gutaussehend zutraf, war ein dunkelhaariger Typ im weißen Hemd und mit Grübchen am Kinn. Seine Schultern waren so breit wie die von Meister Proper. Als er sah, dass Maya auf ihn aufmerksam geworden war, zwinkerte er ihr zu. Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. „Das muss daran liegen, dass ich eine Himmelslaterne in der Hand habe. Bestimmt hält er mich für einen Engel“, frotzelte sie. Männer wie dieser im Fitnessstudio gestählte Karriereheini standen ihrer Erfahrung nach für gewöhnlich nicht auf Frauen mit brünetten Haaren und Sommersprossen auf der Nase, die Jeansshorts und Flipflops trugen. Männer wie er standen auf den Typ Spielerfrau. Blondinen mit seidigen Locken, botoxglatter Stirn und Silikonbrüsten, an die sich Unterwäsche von La Perla schmiegte. Und das war auch gut so. Mit Schnöseln wie ihm hatte Maya nämlich noch nie etwas anfangen können.

Kathi schaute auf ihre Armbanduhr. „Gleich ist es zwölf. Bist du bereit für ein phantastisches Jahr voller Glück, Gesundheit, Erfolg und Liebe?“

„Ersetze das Wort Liebe durch ’schmutzigen, hemmungslosen Sex‘, und ich bin dabei.“

Kathi und sie kannten sich seit der Grundschule, und seitdem waren sie immer unzertrennlich gewesen. Aber in den letzten sechs Jahren hatte sich ihr Leben in vollkommen verschiedene Richtungen entwickelt.

Nachdem Maya ihr Biologiestudium kurz vor den Abschlussprüfungen geschmissen hatte, war sie in die Welt hinausgezogen. Sie hatte einen Reiseblog gestartet und es innerhalb kürzester Zeit geschafft, Maya will Meer zu einem der beliebtesten Blogs von Deutschland zu machen. Seitdem war sie nie länger als einen Monat an ein- und demselben Ort.

Kathi dagegen hatte ihr Lehramtsstudium brav beendet. Im ersten Jahr des Referendariats hatte sie ihre Jugendliebe Alexander geheiratet, im zweiten waren die beiden aus ihrer Hamburger Innenstadtwohnung in ein Reiheneckhaus nach Norderstedt gezogen, und nachdem Kathi einige Zeit als Lehrerin für Deutsch und katholische Religion gearbeitet hatte, war Luca gekommen. In den Urlaub fuhren Alexander und sie meist nur an den Chiemsee, wo Kathis Eltern eine Ferienwohnung besaßen. Nur einmal waren sie auf die Malediven geflogen. Zu ihrer Hochzeitsreise. Aber dort hatte es Alexander nicht gefallen. Zu viele Stechmücken und keine Formel 1.

Kathi träumte schon so lange davon, einmal bei einem Laternenfest dabei zu sein. Seit sie vor ein paar Jahren, als sie beide noch auf der Uni gewesen waren, gemeinsam Rapunzel – neu verföhnt! gesehen hatten. Trotzdem hatte es Maya fast sechs Monate gekostet, ihre Freundin zu überreden, mit ihr nach Nordtaiwan zu fliegen. In der Zeit hatte sie selbst elf Länder bereist.

Kathi neigte sich zu Mayas Ohr. „Ich muss mich noch mal bei dir bedanken, dass du mich dazu überredet hast, hierher zu kommen. Auch wenn es nur für einen Kurztrip war. Ohne dich würde ich jetzt vermutlich gerade am Wickeltisch stehen und Luca die Windel wechseln.“

„Ist er immer noch nicht sauber?“

„Nein! Er ist doch erst elf Monate alt. Sauber werden Kinder frühestens mit zwei Jahren.“

War das so? Maya hatte von diesem Thema überhaupt keine Ahnung. Anders als Kathi, die mindestens drei wollte, war es ihr nie besonders erstrebenswert vorgekommen, Kinder zu haben.

Kathi kontrollierte noch einmal ihre Uhr. „Noch drei Minuten. Hach! Ich bin jetzt richtig aufgeregt.“ Ihre Laterne hielt sie so fest umklammert, dass sie schon ganz zerdrückt war. „Ist es nicht unglaublich romantisch hier?“

„Geht so. Wir stehen hier zusammengequetscht mit ungefähr dreihunderttausend anderen Menschen auf den Bahngleisen, und gerade sind wir im letzten Moment einem heranrasenden Zug ausgewichen.“

„Ja, weil unter Insidern bekannt ist, dass hier die beste Startbahn für Wünsche ans Universum ist, das habe ich dir jetzt bestimmt schon zehn Mal gesagt … Ich denke, wir können die Laternen jetzt anzünden.“ Kathi hob ihre Laterne hoch über ihren Kopf, und Maya zog einen kleinen Stapel goldenes Papier aus der Tasche. Geistergeld nannte man das hier, das hatte ihnen die Frau erzählt, in deren vollgestopftem Laden mit taiwanesischem Krimskrams Kathi und Maya die Laternen gekauft hatten.

Das Geistergeld fing Feuer, und die Wärme blähte die Laterne darüber auf.

„Erinnert sie dich auch an eine überdimensionale Kochmütze?“, fragte Maya.

„Dass du immer so prosaisch sein musst!“ Kathi schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre langen roten Haare leuchteten im Schein der Laterne. „Ich finde, dass sie wie ein wunderschöner glühender Miniaturheißluftballon aussieht, der unsere Wünsche zum Universum tragen wird, damit sie dort alle in Erfüllung gehen.“ Kathi hatte sich gewünscht, dass Alexander schnell wieder einen neuen Job finden würde. Ganz klein erkannte Maya nun Kathis gekritzelte Worte am unteren Rand der Laterne.

„Du hast recht.“ Sie griff nach der Hand ihrer Freundin und drückte sie. „Genau so sehen sie aus. Und ich bin mir sicher, dass sie ausgesprochen zuverlässige Boten sein werden.“

Ein Knacken und Knistern verkündete, dass gerade ein Lautsprecher eingeschaltet worden war, und eine blecherne Männerstimme fing an, den Countdown herunterzuzählen, „Zehn, neun, acht …“ Die Menge setzte ein; ein Chor aus Hunderttausenden von Kehlen. Auf den meisten Gesichtern lag ein erwartungsvolles Lächeln, andere wirkten ein wenig angespannt, so wie Kathi. Ihnen konnte Maya ansehen, dass das, was sie sich wünschten, keine Chanel-Handtasche war oder ein Date mit Leonardo DiCaprio – was die mollige Frau neben ihr gut sichtbar auf das helle Reispapier geschrieben hatte.

Schnell zündete Maya mit Kathis Hilfe auch ihre Laterne an. Sie hatte nichts darauf geschrieben, denn sie wollte ihr ihren Wunsch flüsternd mitgeben. Sie legte keinen Wert darauf, dass ihn jemand las.

Auf Instagram, Facebook, Twitter und Snapchat würde sie später schreiben:

 

Mein Wunsch für die Zukunft: Alles soll bleiben, wie es ist! #lanternfestival #pingxi #northtaiwan #travelling #traveller #travelblogger #traveltheworld #fulltimetraveller #sheisnotlost #inspiration #beautifuldestination #happyme #lovemylife

 

Maya brachte die Laterne in Position und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich. Gleich war es soweit. Das Jahr des Hundes ging zu Ende, und das Jahr des Schweins begann. Durfte sie dem chinesischen Kalender glauben, sollte es ein ausgesprochen glückbringendes sein.

„Drei, zwei, eins …“

„Frohes neues Jahr!“, jubelte die Stimme aus dem Lautsprecher. Streicherklänge, gespielt vom Band, setzten ein. Maya schloss einen Moment die Augen, dann ließ sie los.

Anfangs benahm sich ihre Laterne wie ein bockiges Kind. Sie kam ins Trudeln, rempelte andere Laternen an und schubste sie aus dem Weg. Die mollige Frau warf Maya deswegen einen vorwurfsvollen Blick zu. Doch schließlich hatte die Laterne ihren Platz gefunden, und gemeinsam mit den anderen schwebte sie in den schwarzen Nachthimmel hinauf, eine leuchtende Straße aus Hoffnungen und Träumen.

Eigentlich wäre Maya viel lieber nach Yángshuò gefahren, wo vor allem jüngere Leute das Neujahrsfest feierten. Dort war es Tradition, die Böller nicht in die Höhe, sondern ins Publikum zu werfen, weswegen alle Besucher dazu angehalten wurden, sich mit feuerfester Kleidung, Motorradhelm und Handschuhen vor den Feuerwerkskörpern zu schützen. Maya fand, das hörte sich nach einer Menge Spaß an. Das Laternenfest in Pingxi hatte sie sich langweilig und vor allem kitschig vorgestellt, wie eine Torte mit viel zu viel Zuckerguss.

Nun war sie froh, auf Kathi gehört zu haben. Völlig versunken betrachtete Maya die immer kleiner werdenden Laternen auf ihrem Weg zu Gott, Allah oder wem auch immer, begleitet von sehnsuchtsvollen Klängen aus den Lautsprechern, und auf einmal – vollkommen unerwartet! – war er da: der Moment, in dem einfach alles passte, und den sie auf all ihren Reisen suchte.

 

„Soll ich eigentlich gar kein Foto von dir machen? Für deinen Blog“, riss Kathi sie irgendwann aus ihren Gedanken.

„Was? Ach so. Klar. Das hätte ich fast vergessen.“ Für sich selbst hielt Maya ihre schönsten Erlebnisse nicht auf Fotos fest, sondern sie malte Symbole in das perlmuttfarbene Innere von Muscheln, die sie später daran erinnern sollten; dieses Mal würde es eine Himmelslaterne sein. Aber sie war nicht nur zum Spaß hier. Visit North Taiwan hatte sie zu diesem Trip eingeladen, deshalb brauchte sie Fotos.

Maya reichte Kathi ihren Fotoapparat. Da ihre Freundin wusste, wie perfektionistisch Maya bei den Fotos war, die sie ins Internet stellte, machte sie fast dreißig Bilder und gab ihr dann die Kamera zurück. Maya klickte sich durch die Vorschau. Das vorletzte Foto war gut, befand sie.

Die Laternen waren jetzt nur noch winzige Leuchtsplitter am Himmel. Die, die den Weg ins Universum nicht gefunden hatten, lagen verkohlt am Boden. Nach und nach löste sich das Fest auf.

„Lass uns zusehen, dass wir einen der ersten Busse kriegen“, sagte Kathi. „Ich habe für sieben Uhr morgens das Taxi bestellt.“

Maya seufzte. „Es ist so schade, dass du dich nicht länger von deiner Familie loseisen konntest. Was mache ich denn die nächsten beiden Tage ohne dich?“

Kathi und sie hatten zwar nur fünf Tage in Nordtaiwan miteinander verbracht, aber in dieser Zeit hatten sie so viele schöne Erlebnisse gehabt. Sie hatten den Sonne-Mond-See besucht, der inmitten von Bambuswäldern und Teeplantagen lag und dessen Wasser so intensiv smaragdgrün und türkisblau schimmerte, als wäre es eingefärbt worden. Sie waren durch die Hauptstadt Taipeh gestreift, und durch Jiufen, ein Bergdorf, das mit seinen engen Gassen, den Tempeln und malerischen Teehäusern in asiatischen Filmen schon häufig als Kulisse gedient hatte. Und sie hatten so viel miteinander gelacht und geredet. Sonst sprach Maya auf ihren Reisen manchmal tagelang mit niemandem, abgesehen vom Flughafen- und Hotelpersonal. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich schon in wenigen Stunden von Kathi verabschieden musste. Wenn sie mit ihr zusammen war, bekam sie zumindest ein vages Gefühl davon, wie es war, irgendwo zu Hause zu sein …

„Du musst dieses Leben nicht führen, weißt du?“, sagte Kathi. Sie kannten sich schon so lange, dass ihre Freundin sie auch ohne Worte verstand. Aber dieses Mal irrte sie sich.

„Was meinst du damit? Es ist genau das Leben, das ich mir ausgesucht habe!“, gab Maya zurück.

„Ja, ich weiß, dass dich niemand da hineingedrängt hat. Und du bist so irre erfolgreich, du siehst so viele wunderschöne Orte. Wem würde ein solches Leben nicht gefallen? Aber du reist immer schneller. Früher bist du immer zumindest ein paar Wochen an einem Ort geblieben. Jetzt ist es nur noch eine.“ Kathi hob eine abgestürzte Himmelslaterne auf und warf sie in einen Papierkorb.

„Ich reise im Moment so schnell, weil ich mir die Herausforderung gestellt habe, 52 Länder in 52 Wochen zu besuchen“, erklärte Maya. Ihr war selbst klar, dass das sehr ambitioniert war. Aber sie fand, dass man sich ehrgeizige Ziele setzen musste. Außerdem war es wichtig, dass sie Lesern und Kooperationspartnern immer wieder etwas Neues bot, wenn sie weiterhin von ihrem Blog leben wollte. Wieso konnte Kathi das nicht einfach akzeptieren? „Komm jetzt! Der Bus steht schon da!“ Maya fing an zu laufen.

Obwohl der Bus schon ziemlich voll war, sprangen sie noch hinein. Dabei blieb Maya mit der Fußspitze an einer Treppenstufe hängen. Um nicht auf dem Boden zu landen, krallte sie sich am Erstbesten fest, das ihr unter die Finger kam. Es war ein weißes Hemd, merkte sie, als sie mit dem Gesicht dagegen stieß.

„Hoppla, nicht so stürmisch!“, sagte eine Stimme über ihr.

Maya löste ihre Nase von dem glatten Stoff und schaute nach oben. Das war doch der Karriereheini, der sie vorhin so angestarrt hatte! Hatte der gerade echt Hoppla gesagt?! Sie hatte immer gedacht, der Gebrauch dieses Worts wäre Menschen unter sechs oder über sechzig vorbehalten. Aber er roch gut.

Maya strich sich die dunklen Haare zurück. „Sorry. Wenn ich gewusst hätte, dass du meinen Versuch, mich dir an den Hals zu werfen, so leicht durchschaust, wäre ich subtiler vorgegangen.“

Zwei kornblumenblaue Augen blitzten zu Maya hinunter. „Schon okay. Ich mag Frauen, die wissen, was sie wollen.“

Schlagfertig war er ja! Und beneidenswert resistent gegen Hitze. Maya konnte keinen einzigen Schweißfleck auf seinem blütenweißen Hemd ausmachen. Sie selbst fühlte sich, als wäre sie durch Sirup gezogen worden.

Maya drehte sich nach Kathi um. Sie stand eingezwängt zwischen einem Schwarzen mit violetten Kopfhörern und einem asiatischen Mädchen mit Hello-Kitty-Rucksack auf dem Rücken und checkte gerade die Nachrichten auf ihrem Handy.

Der Bus setzte sich ruckelnd in Bewegung, und Maya wurde erneut an die gestählte Brust des Schnösels geworfen. Oh Mann! Sie griff nach einer der schmierigen Kunststoffschlaufen, die von der Decke baumelten.

„Ich bin übrigens Tobi“, stellte sich der Typ vor. „Hast du Lust, in Taipeh mit mir was trinken zu gehen?“

Mayas Augenbrauen schossen nach oben. Ganz offenbar war auch er jemand, der ganz genau wusste, was er wollte.