Ein Jahr ist es nun schon her, dass ich zusammen mit meiner Mutter nach La Gomera geflogen bin. Zeit, diese wunderschöne Zeit mit Hilfe meines Reisetagebuchs Revue passieren zu lassen!
Endlich ist es soweit! Nach einer Stunde Überfahrt taucht La Gomera an der Horizontlinie auf. Die Form der Insel erinnert mich an das Profil eines Gesichts. Meine Mutter kann Augenhöhlen, Nase, Mund und Kinn jedoch überhaupt nicht erkennen. Sie findet, die Insel sieht haargenau aus, wie eine Insel eben aussieht. Ich muss über ihren Pragmatismus lachen und halte unseren Dialog in meinem Notizbuch fest.
Für einen Moment schließe ich die Augen, lasse mir die Haare vom Wind zerzausen und frage mich, welche Eindrücke und Erlebnisse in den nächsten fünf Tagen auf mich warten – und welche davon den Weg in Mayas Geschichte finden. Der alte Mann, der seine Frau später mit einem Eselskarren von der Fähre abholt, wird sich bestimmt gut darin machen. Genau wie der Fahrer eines Schweinetransporters. In rasanten Schlangenlinien quetscht er sich durch uns herausströmenden Ankömmlinge durch.
Die ersten beiden Tage verbringen meine Mutter und ich in Hermigua, einem kleinen Dorf im Norden der Insel, das ganz in der Nähe des Nebelwalds liegt, für den La Gomera so berühmt ist. Als ich ihn das erste Mal betrete, bin ich enttäuscht. Denn die Bäume sind voller hellgrüner Blätter, die Pfade schlängeln sich durch rosafarbene Blütenkissen und die Luft ist erfüllt vom Zwitschern der Vögel. Der Wald ist sehr hübsch, zweifellos. Aber wo sind die mit Moos bewachsenen kahlen Bäume, die ich im Internet gesehen habe? Wo ist der Nebel, der schwer zwischen den Stämmen hängt?
Das alles finden wir am nächsten Tag in der Inselmitte. Flechten hängen wie Spinnweben von den Ästen knorriger, ineinander verwachsener Bäume herunter und verleihen der Szenerie etwas Unheimliches. Genau wie die das leise Knarzen, das durch die Reibung der Stämme aneinander entsteht. Ansonsten ist es abgesehen von gelegentlichem Vogelgezwitscher still.
Auf Zivilisation treffen wir erst mehrere Kilometer weiter in einer kleinen Bar namens La Vista, in der Kressesuppe in rustikalen Holztellern serviert wird. Köstlich!
Überhaupt ist das Essen unglaublich lecker auf La Gomera – und preisgünstig. Im Süden der Insel kostet es manchmal sogar überhaupt nichts. Mangos, Bananen und Feigen wachsen wild und können direkt vom Baum oder Strauch gepflückt werden. So auch auf der Finca Argayall, die am Rand des Valle Gran Reys liegt. In das Tal des großen Königs wird es Maya verschlagen, und hier werden wir die letzten Tage unserer Reise verbringen.
Auf der Fahrt über die Schotterpiste, die zur Finca spürt, ist meine Mutter nicht nur wegen des furchteinflößend engen Wegs angespannt, sondern auch, weil ich ihr eröffne, dass wir auf der Finca in einer kleinen Holzhütte wohnen werden, die mitten in einem tropischen Garten liegt und die leider weder ein eigenes Bad noch eine Toilette hat. Außerdem erzähle ich ihr erst jetzt, dass auf der Finca rein vegetarisch gekocht wird, dass die Finca im Internet als ein Zentrum für Meditation und geistige Heilung bezeichnet wird und dass sie zumindest an dem einen Pool damit rechnen muss, nackte Menschen zu sehen.
In den Genuss kommt sie schon früher. Kaum haben wir unseren Mietwagen geparkt, erwartet uns nicht nur ein traumhafter Ausblick aufs Meer, wir treffen auch auf einen jungen Mann mit taillenlangen Dreadlocks, der hüllenlos an einem Busch steht und Beeren nascht. Als er uns bemerkt, flüchtet er. Meine Mutter gesteht mir später, dass sie noch nie jemand gesehen hat, der so nahtlos braun ist. Beim Essen spreche ich eine der Fincamitarbeiterinnen auf den Mann an. „Ach, du meinst unseren Hippie!“, ruft sie. „Mach dir nichts draus, dass er weggelaufen ist. Er ist sehr schüchtern. Bei mir hat es auch ziemlich lange gedauert, bis er mich gegrüßt hat.“
Gita* hat schulterlange weiße Haare, wunderschöne eisblaue Augen, und sie gibt zu, dass sie eigentlich gar nicht vorhatte, auf der Insel zu bleiben. Aber irgendwie sei sie hängen geblieben, und nun lebe sie schon seit fast dreißig Jahren auf der Finca. Auch Moni* ist es so ergangen. Ihr schwarzweißer Kampfhund T-Ray kriegt sich vor Freude gar nicht mehr ein, als ich ihm den Bauch kraule, während seine Besitzerin mir erklärt, wie ich vom Künstlerdorf El Guro aus zum Wasserfall komme.
Im Internet wurde der Weg dorthin als harmloser Spaziergang bezeichnet, zu dem man auch gut Kinder mitnehmen könne. Tatsächlich erweist er sich als handfeste Wanderung, die auch noch dadurch erschwert wird, dass sie mit mikroskopisch kleinen Pfeilen ausgezeichnet ist. Mehr als einmal müssen wir umdrehen, weil wir in die falsche Richtung unterwegs sind.
Unser Weg führt uns nicht nur über Felsbrocken und durch schlammige Pfützen, wir müssen auch eine nicht besonders vertrauenserweckende Strickleiter hochklettern. Schon bald tut es mir leid, dass ich mich nicht an den superleckeren Energiebällchen gestärkt habe, die eine Frau mit einem Tigerohrenhaarreif in den Dreadlocks uns auf der Hälfte des Weges angeboten hat. Der Wasserfall ist aufgrund der Trockenheit kaum mehr als ein Rinnsal. Ich finde den Platz aber trotzdem sehr schön. Überall stehen Steinmännchen herum, und er hat eine ganz besondere Atmosphäre – wie so viele Orte auf La Gomera.
Würde ich ebenso wie Maya den schönsten Moment der La-Gomera-Reise im perlmuttfarbenen Innern einer Muschel festhalten, so wären es die Abende, die meine Mutter und ich an dem kleinen Teich inmitten des tropischen Gartens der Finca Argayall verbracht haben. Jeden Tag haben wir dort auf einer Bank mit einem Glas Rotwein in der Hand dem Quaken der Frösche gelauscht und auf den Eintritt der Dämmerung gewartet. Denn dann kamen die Gelbschnabelsturmtaucher, Vögel, die auf dem Meer leben, aber kurz vor Sonnenaufgang und kurz nach Sonnenuntergang aufs Festland fliegen, um dort ihre Jungen zu füttern. Die Geräusche, die sie dabei ausstoßen sind unglaublich. Eiaeiaeia, eiaeiaeia. Es hörte sich an, als ob Hunderte von Hexen mit ihren Besen lachend und gackernd durch die Luft sausten. Noch nie habe ich etwas Derartiges gehört. Die Vögel klingen so fröhlich und voller Leben.
Drei Tage später stehe nicht nur ich, sondern auch meine Mutter wehmütig an der Reling der Fähre. Noch einmal schauen wir zu La Gomera hinüber. Nun kann auch meine Mutter das Gesicht deutlich erkennen. Und auch wenn niemand von uns besonders esoterisch ist, müssen wir zugeben: La Gomera hat etwas in bewegt.
(*Namen wurden geändert)
Für noch mehr Impressionen von meiner Reise auf diese wunderschöne Insel schaut bei Pinterest vorbei! Ich habe diese Plattform neu für mich entdeckt und bin ganz begeistert. Hier findet ihr auch meine Moodboards, zu diesem, zu älteren, aber auch zu kommenden Romanen!